Bauchgefühl

Mehr Liebe für die Körpermitte

Tschüss, Schönheitsideal, hallo, Speck! Endlich freunden wir uns mit einer üppigeren Körpermitte an. Wissenschaftler erklären, warum uns ein paar Kilo mehr richtig guttun.

Mehr Liebe für die Körpermitte
Mehr Liebe für die Körpermitte Foto: nicoletaionescu / iStock
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Seien wir doch mal ehrlich: Wann haben wir das letzte Mal liebevoll an unseren Bauch gedacht? Weil wir ihn schön finden etwa, oder weil wir beeindruckt sind von dem, was er für uns leistet. Immerhin befinden sich zwei Drittel des Immunsystems im Bauch und ein weitverzweigtes Netz aus über 100 Millionen Nervenzellen, das unsere Mitte zu einem hochsensiblen Zentrum macht.

Lieber täglich etwas für den Stoffwechsel tun, anstatt zu hungern:

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Dennoch ist ein freundlicher Gedanke an unseren Bauch ziemlich lange her, oder? Wir finden ihn zu weich, zu rund, zu dick und sind deshalb ungnädig mit ihm. Die fernöstlichen Kulturen betrachten den Bauch als unsere Mitte. Die Japaner nennen dieses Zentrum "Hara". Es gilt als "Quelle des Lebens". In Verbindung mit seinem Hara zu stehen bedeutet, mit Wohlgefühl und Freude zu leben und sich der eigenen Bedürfnisse bewusst zu sein. Also sollten wir nicht mal den Perspektivenwechsel wagen und einen versöhnlichen Blick auf unsere Mitte werfen? Da gibt es nur ein kleines Problem: Die Liebe zum Bauch wird uns in der westlichen Welt nicht leicht gemacht. Hier gilt ein flacher Bauch als Schönheitsideal. Zudem wird er von Medizinern als gesundheitliches Vorbild propagiert. Und wo schlank und schlanker als gut und besser gelten, ist eine allgemeine Körperunzufriedenheit unausweichlich. Die schlägt sich besonders im Buchmarkt geballt nieder: Rund 10.000 Ratgeber zum Thema Diät sind derzeit lieferbar.

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Doch glücklicherweise ermöglichen neue Erkenntnisse der Forschung einen anderen Blick auf den Bauch. So erklärt der Arzt und Diabetologe Prof. Dr. Achim Peters, warum wir mehr wiegen dürfen, als wir denken. Und seine Erkenntnis ist so verblüffend wie revolutionär: Fülligere leben länger und sind besser vor Stress geschützt. Peters gehört einer Forschungsgruppe an, die seit über 15 Jahren eigene Studien dazu durchführt und mehr als 12.000 wissenschaftliche Arbeiten zum Thema analysiert und abgeglichen hat. Dabei kamen die Forscher zu dem Schluss, dass dauerhafter Stress tatsächlich immer die Ursache ist, wenn Menschen dicker werden. Nur der Grund hierfür ist ein anderer als bislang von der Schulmedizin angenommen. Dicker zu werden ist Ausdruck einer Strategie des Gehirns, sich vor den Auswirkungen von Stresshormonen zu schützen: "Zunächst geht es darum, dass sich das Gehirn von gestressten Menschen anpassen kann. Das gelingt, indem bestimmte Vorgänge im Kopf das Stresssystem dämpfen, was aber wiederum den Energiestoffwechsel im Körper verändert. Vereinfacht: Das Gehirn benötigt eine höhere Energiezufuhr, es verlangt also nach mehr Nahrung. Etwa 40 Prozent aller Menschen werden in dieser Situation dicker, das ist genetisch bedingt."

Auf das Körpergefühl hören:

Mehr Pfunde gegen den Stress

Dicker zu werden ist also eine Art Nebenwirkung, wenn unser Gehirn der dauerhaften Ausschüttung von Stresshormonen entgegenwirkt. Ausschlaggebend ist das Stresshormon Cortisol. Ist sein Pegel über einen Zeitraum von Jahren erhöht, wird es kritisch. Alterungsprozesse beschleunigen sich, Muskeln, Knochen und Bindegewebe werden abgebaut, das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle steigt deutlich. Wie uns mehr Körpergewicht vor dem gefährlichen Stresshormon schützt, zeigt eine Studie, die Dr. Peters zusammen mit dem Stressforscher Bruce McEwen durchführte. Dazu luden die Wissenschaftler 20 schlanke und 20 füllige Studenten zu einem Vorstellungsgespräch ein, ließen sie unter Druck Rechenaufgaben lösen. Die Cortisolwerte im Blut der Schlanken waren danach stark erhöht, die Fülligeren regte die Situation nicht merklich auf. Für solch einen heilsamen Effekt lohnt es sich, ein, zwei Kilo mehr auf der Waage zu akzeptieren. Zumal Forscher jetzt auf eine weitere Gefahr gestoßen sind, die von Cortisol ausgeht: Das Stresshormon begünstigt den Einbau von Fett in den Bauchraum. Mediziner sprechen vom viszeralen Fett, das zwischen den Gedärmen ruht und der Feindesabwehr dient. Sind aber keine Viren und Bakterien vorhanden, richten sich die Verteidigungsproteine gegen den eigenen Körper. "Weil Hungern ein zusätzlicher Stressfaktor ist, der den Cortisolspiegel erhöht, sind Diäten unsinnig und auch gesundheitsgefährdend", sagt Peters. "Am besten ist es, sein Wohlfühlgewicht zu akzeptieren, statt vermeintlichen Schönheitsidealen nachzueifern. Denn das Körpergewicht ist Ausdruck des individuellen Energiebedarfs. Jeder isst so viel, wie er benötigt, nicht mehr."

Das Märchen vom flachen Bauch

Der Maßstab für das Wohlfühlgewicht ist also das eigene Stresssystem. Ob es sich in Ruhelage befindet, hängt davon ab, ob das Gehirn ausreichend mit Energie versorgt ist. Ist dies der Fall, ist das Wohlfühlgewicht erreicht. Dementsprechend ist das Körpergewicht, bei dem wir und unser Stresssystem sich wohlfühlen, eine individuelle Sache. Deshalb kann es auch von keinem Programm berechnet werden. "Eine aktive Lebensweise, die mit gesunder Ernährung einhergeht, führt automatisch zum optimalen Körpergewicht. Das bedeutet, dass es sich gar nicht lohnt, über dieses Thema nachzudenken", schreibt die Diplompsychologin und Gründerin der Abnehmschule Astrid Kurbjuweit auf ihrer Homepage (die-abnehmschule.de). "Und hier liegt das Problem. Denn durch Schlankheitswahn, BMI-Berechnungen und Diätvorschriften werden wir ständig mit unserem Gewicht, unserem Aussehen und unserer Lebensart konfrontiert. Die Botschaft ist überall gleich: Wir machen es nicht richtig." Durch die Orientierung an von außen gesetzten Normen geht das natürliche Körpergefühl verloren. Und so machen wir viel falsch. Etwa wenn wir mit überzogenen Erwartungen anfangen, unseren Bauch mit aggressivem Muskeltraining auf superflach zu trimmen, was die Stressspirale abermals in Fahrt bringt. Und das ist auch der einzige Effekt. Denn Frauen können körperlich gar keinen komplett flachen Bauch bekommen. Derart definiert wäre er nur, wenn der Körperfettanteil bei weniger als 15 Prozent läge. Selbst wenn wir gut trainieren, sinkt der Körperfettanteil bei gesunden Frauen jedoch kaum unter 21 Prozent. Dazu kommt, dass sich Muskeln ohne regelmäßige Betätigung nach dem 30. Lebensjahr abbauen – alle zehn Jahre um fünf Prozent. Und da jedes Pfund Muskeln täglich sechs bis neun Kalorien verbrennt, verlangsamt sich so auch unser Stoffwechsel. Wenn wir also nicht gerade Marathon laufen, sollten wir uns spätestens ab dem 40. Lebensjahr von einem superflachen – nicht aber von einem schönen, gesunden Bauch – verabschieden.

Was der Bauch wann braucht

Laut der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) ist die Hauptfunktion des Bauchs, Nahrung in Blut, Lebensenergie und Säfte umzuwandeln und im Körper zu verteilen. Voraussetzung dafür ist entsprechend ein gesunder Bauch. Mediziner empfehlen die sogenannte BEA-Regel. BEA steht für Bauchübung, Ernährungsumstellung und Ausdauertraining. Den Vorteil dieses Programms belegt eine Studie der amerikanischen Duke University. Sie ergab, dass Menschen, die Muskel- mit Ausdauertraining kombinierten, das Verhältnis von Bauchmuskeln zu Bauchfett günstiger beeinflussten als jene, die nur auf Muskeltraining setzten. "Wer sich ausdauernder bewegt, verbraucht mehr Energie, bringt den Stoffwechsel in Balance. Der Körper lernt, das Bauchfett als Energiereserve zu nutzen", erklärt Chris Slentz, Leiter der Studie. "Und das klappt beim Joggen so gut wie beim Radfahren, Nordic Walking oder Aquajoggen. Dreimal wöchentlich Ausdauertraining wäre ideal." Dazu sollten wir täglich zehn Minuten eine Bauchmuskelübung machen.

Wann Genießen besser als Fasten ist

Die französische Schriftstellerin Mireille Guiliano, die sich in ihrem Buch "Warum französische Frauen nicht dick werden" (Piper Taschenbuch, 9,99 Euro) gegen den Diätenwahn richtet, propagiert die Lust am Essen, das Genießen mit allen Sinnen, das Lebensfreude vermittelt. "Hochwertige Lebensmittel, abwechslungsreich zubereitet, ermöglichen die Freude am Geschmack, die der moderne Mensch zwischen Fast Food und Stress-Essen fast vergessen hat", schreibt die Autorin. "Jede Mahlzeit ist etwas Besonderes und sollte in Ruhe genossen werden. Dazu gehört auch ein schön gedeckter Tisch. Dann wird es einfach, sich das Essen bewusst zu machen und zu genießen." Die These, dass Genuss unserem Bauch guttut, wird jetzt sogar wissenschaftlich gestützt. So kommt eine japanische Studie der Osaka University zu dem Schluss: Schnelles, hastiges Hinunterschlingen ist ungesund und macht dick, langsam essen hält hingegen schlank. Die Erklärung: Wer langsam isst, nimmt in dem gleichen Zeitraum deutlich weniger Kalorien zu sich als Menschen, die schnell essen. Zusatzeffekt: Aromen können sich beim achtsamen Essen voll entfalten und jedes Geschmacksdetail wird registriert – ein Vergnügen, das beim hektischen In-sich-Hineinstopfen auf der Strecke bleibt. "Wenn die Mitte stark ist, können die 1000 Krankheiten geheilt werden. Wenn sie geschwächt ist, gibt es oft nicht mehr viel Hoffnung", ist die Auffassung der TCM-Mediziner. Mittlerweile haben aber auch die meisten deutschen Ärzte und Schmerztherapeuten die besondere Bedeutung des Bauches erkannt. So hat er nicht nur die Aufgabe, Energie im Körper gerecht zu verteilen, es liegt zudem in seiner Macht, psychische Prozesse zu vollenden und Spannungen abzubauen.

Wir haben es trotzdem getestet:

Was der Bauch sagen will, wenn er mit uns spricht

"Der Bauchraum ist zuständig für regenerierende Prozesse. Hier entsteht die Kraft der Selbstheilung", sagt der Leiter der Schmerzklinik Kiel, Prof. Dr. Hartmut Göbel. "Das erklärt, warum mehr als 50 Prozent der Patienten mit psychischen Erkrankungen auch über Bauchschmerzen klagen. Nicht umsonst sagen wir 'Mir schlägt etwas auf den Magen'. Hinter chronischen Bauchschmerzen stecken oft seelische Probleme." Der Bauch ist also eng verbunden mit unserem Seelenleben und möchte uns mit seinen Regungen meist etwas sagen. Die Kommunikation funktioniert aber nur, wenn es auch einen aufmerksamen Zuhörer gibt. Ein weiterer Grund, warum wir unserem Bauch mehr Achtsamkeit und Liebe entgegenbringen sollten – egal, wie rund er auch gerade ist.

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