Selbstreflexion

Biografiearbeit: Wie Sie Erinnerungen für Ihr Wohlbefinden nutzen

Der rote Faden unserer Gesundheit zieht sich durch die ganze Lebensgeschichte. Wie wir ihn durch Biografiearbeit entdecken und unser Wohlbefinden steigern.

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Warum bleiben manche Menschen trotz vieler gesundheitsgefährdender Einflüsse gesund? Wie schaffen sie es, sich von Erkrankungen wieder zu erholen? Und was ist das Besondere an Menschen, die trotz extremer Belastungen nicht krank werden? Der israelischamerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, was uns eigentlich gesund hält. Seine wissenschaftlichen Erkenntnisse hat er mit dem Begriff „Salutogenese“ überschrieben: die Lehre von der Gesundheitsförderung.

Er stieß auf drei Faktoren, die dazu führen, dass Menschen unter identischen Stressbedingungen eher gesund bleiben als andere: Das Gefühl, die Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen, Ereignissen und Krisen des eigenen Lebens zu verstehen. Die Zuversicht, die Lebensfäden selbst in der Hand zu halten und die Herausforderungen bewältigen zu können und das sichere Wissen um die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens.

Die Arbeit mit der eigenen Biografie weckt verborgene Kräfte

Diese drei Faktoren ergeben zusammen das Gefühl einer inneren Stimmigkeit“, erklärt Dr. Susanne Hofmeister. Sie ist Ärztin für anthroposophische Medizin in Heidelberg und wendet in ihrer Behandlung die sogenannte Biografiearbeit an, also eine gezielte Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben. „Biografiearbeit trägt die Möglichkeit der Gesunderhaltung und der Genesung in sich, weil sich die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit als Schritt der Selbsterkenntnis nutzen lässt“, erklärt sie, „und sich dann gesundheitsfördernd auf unser Alltagsleben auswirken kann.“

Die Bestätigung liefert ihr die tägliche Praxis. Denn dort erlebt sie, dass Depressionen, Ängstlichkeit und psychosomatische Beschwerden bei Menschen seltener auftreten, die mit einer Art rotem Lebensfaden verbunden sind. Diese Leitlinie kann übrigens jeder finden und sich an ihr orientieren. Bei dieser Arbeit gelingt es durch Rückblicke, alten Verhaltensmustern auf die Schliche zu kommen und persönliche Entwicklungschancen richtig zu nutzen.

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Drei Lebensphasen – drei unterschiedliche Wege der Entwicklung

Es ist ein bisschen wie Sherlock Holmes spielen. Denn um unser Leben genauer unter die Lupe zu nehmen, wird es in drei große Abschnitte eingeteilt: Bis etwa zu unserem 21. Geburtstag befinden wir uns in der körperlichen Entwicklungsphase. Das bedeutet nicht nur, dass wir wachsen, sondern wir verbinden uns sowohl mit uns als auch mit unserer Umgebung.

Nach der Körperebene folgt dann die Zeit unserer seelischen Entwicklung – von 21 bis 42 Jahren. Jetzt lernen wir uns intensiver kennen, strecken unsere Fühler in die Welt aus, um uns hier einzurichten. Das Faszinierende ist, dass wir während dieser tiefergehenden Seelenphase auf unserer Körperebene wie auf einem Plateau stehen. Das heißt, unsere ganze Power steht uns zur Verfügung: Familie, Kinder, Karriere – alles erscheint machbar, weil wir unser Leben im Griff haben.

Dann, mit etwa unserem 40. Lebensjahr und somit der dritten Phase, beginnt die Zeit der geistigen Entwicklung. Wir machen uns auf den Weg – und finden zu unserer Lebensaufgabe. Das Schöne an dieser Phase ist, dass wir die Pläne für unsere Zukunft mutig und kraftvoll in der Welt verwirklichen können. Körperlich betrachtet, beginnt nun allerdings, zunächst unmerklich, die Zeit des Alterns. Und wir fangen an, uns Fragen zu stellen, zum Beispiel an unser Leben und nach seinem Sinn.

Mit Biografiearbeit unsere Zukunft gestalten lernen

In unserer Lebensmitte bemerken wir, wie stark uns die Muster unserer Kindheit geprägt haben, die tief verinnerlichten Glaubenssätze und Normen der Erwachsenen. Unsichtbaren Tattoos gleichen diese Narben unserer Seele“, sagt Susanne Hofmeister. „Aber das, was uns geschehen ist, zeichnet uns auch aus, ist Teil unserer Individualität. Wenn wir unsere Herkunft bewusst integrieren können, legen wir die Basis, um den Weg in unsere ureigene Zukunft zu finden. Es gilt dabei, Schritt für Schritt den Menschen, der wir geworden sind, anzunehmen, anzuerkennen und die Erlebnisse unserer Vergangenheit als tief zu uns gehörend zu verstehen.“

Durch die Biografiearbeit erfahren wir, dass uns die eigene Vergangenheit in einer wunderbaren Weise Kraft gibt. Und gelingt es uns, diesen Zusammenhang zu verstehen, fangen wir an, die Chancen zu begreifen, die wirklich in unserem Schicksal liegen.

Wie wir zu den Architekten unseres eigenen Lebens werden

Stellen wir uns unser Leben in seinem Verlauf als ein Haus vor, dann haben wir in den ersten drei Lebensabschnitten der Kindheit, Schulzeit und Jugend die drei Räume des Erdgeschosses bezogen; auf ihnen stehen wir unser ganzes Leben lang – wie auf einem Fundament. Es prägt unseren Umgang mit der Welt. Bei der Biografiearbeit betreten wir diese Räume dann noch einmal, erforschen ihr Innenleben und fragen uns: War ich ein trotziges Kind, war ich mutig oder eher ängstlich? Fühlte ich mich von meinen Eltern geliebt, und wie war meine Beziehung zu ihnen? In welcher Umgebung bin ich aufgewachsen, welche Sinneseindrücke haben sich bis heute eingeprägt? Bin ich gern zur Schule gegangen? Fühlte ich mich verstanden? Wie lief es in meiner Pubertät, fühlte ich mich von den Eltern unterstützt?

Es lohnt sich, diese Fragen nach der eigenen Kindheit, Schulzeit und Jugend zu stellen“, erläutert Hofmeister. „Denn schon die Antworten bergen Erklärungen für Verhaltensweisen und Entscheidungen in sich, die uns bis dahin unerklärlich waren. Wenn wir als Erwachsene zum Beispiel erleben, dass wir unseren Stimmungen hilflos gegenüberstehen, liegt das daran, dass wir nicht wissen, woher sie kommen. Entdecken wir aber ihren Ursprung, können wir wieder zum Gestalter unseres Lebens werden – und zwar im Fühlen wie im Handeln. Und noch etwas: Vermehrte Selbstwirksamkeit stärkt den Lebensflow und ist nachweislich der beste Schutz gegen Stresserkrankungen.

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Wenn wir in ein Drama aus Kindertagen rutschen

Je mehr wir uns mit unserer Vergangenheit beschäftigen, desto mehr Verhaltensmuster werden uns bewusst, die ihren Ursprung in diesem ersten großen Lebensabschnitt haben. In dem Fall könnten wir darüber nachdenken, ob das Muster noch hilfreich und förderlich ist oder ob wir unsere Strategie verändern und aktualisieren sollten“, erklärt die Medizinerin. Wer zum Beispiel als Kind in unlösbare oder ängstigende Situationen geriet, hatte instinktiv nur drei Reaktionsmöglichkeiten zur Verfügung: totstellen, fliehen oder angreifen. Dazu kam das Gefühl von Hilflosigkeit und Ohnmacht.

Dieses Wissen kann dazu dienen, um bei uns oder auch beim Partner zu erkennen, wann wir in eine alte Geschichte abtauchen – in dem Moment zum Beispiel, wenn wir den Drang spüren wegzugehen oder wir aggressiv werden und damit in ein altes Drama aus Kindertagen verfallen. Schon das Erkennen, dass wir oder der Partner in einen alten Film geraten sind, ist hilfreich – und entspannt die Atmosphäre.

Stellen wir uns das Leben als Gebäude vor, wird uns die Biografiearbeit eines vor Augen führen: Je älter wir werden, desto deutlicher wird uns der starke Einfluss der ersten 21 Lebensjahre, die das Erdgeschoss unseres Hauses bilden. Eine Treppe führt von dort in das erste Stockwerk – in das der seelischen Entwicklung. Doch dieser „untere“ Raum wird samt Erfahrungen in den zweiten großen Lebensabschnitt, ins Obergeschoss – zwischen 21 und 42 Jahren – mit einbezogen.

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In der zweiten Lebenshälfte liegt es an uns, ob wir uns an den vorgegebenen Plan der ersten Lebenshälfte halten oder mit dem Umbau beginnen wollen“, sagt die Biografiearbeiterin. „Es soll immer mehr unser Lebenshaus werden, das zu uns passt und auch weiterhin ausbaufähig ist. Denn wenn wir unsere seelisch-geistige Weiterentwicklung immer im Auge behalten, können wir direkt unsere Gesundheitskräfte stärken.

Das bedeutet für uns Spurensucherinnen: Immer wenn uns unsere Gefühle überfluten und wir keinen reflektierenden Erwachsenenstandpunkt einnehmen können, lohnt es sich laut Dr. Susanne Hofmeister zu fragen, in welcher Atmosphäre wir als Schulkinder lebten. Weil nämlich zu viele Regeln, Grenzen und Pflichten lebenslang zu einem Gefühl der Enge führen können. Erkennen wir aber diese Zusammenhänge, führt dies schon zu einer Art Befreiung. Der Blick zurück ermöglicht uns die freie Sicht in unsere Zukunft – und das fühlt sich gut an.

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