Bewegende Beichte

Schicksal der Woche: "Meine Tochter will ein Junge sein"

Claudias (58) Tochter Antonia will zu Anton werden. Wird sie ihrem Kind helfen, sich im eigenen Körper wohl zu fühlen? 

Die Mutter sorgt sich um ihre Tochter
Claudia fragt sich: Wie kann ich meiner Tochter nur helfen? Foto: iStock/ fizkes/ Collage - Dominica Zabrowski
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In unserer neuen Rubrik 'Schicksal der Woche' berichten Menschen anonym über sensible Themen, die sie bewegen. Liebenswert befragt nachträglich einen Experten zu diesem Thema: Was kann man in einer solchen Situation machen, worauf sollte man unbedingt achten und was ist ein absolutes No-Go?

Das Schicksal dieser Woche: Eine Frau, deren Tochter eigentlich ein Junge sein will.

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Wie Claudia* es geschafft hat, ihrer Tochter beim Schritt zum anderen Geschlecht zu helfen, erzählt sie hier:

Claudia kann zunächst nicht fassen, was mit ihrer Tochter Antonia* geschieht. Sie verändert sich, zieht weite Jeans an, schneidet sich ihre Haare kurz. Dann trifft sie die Erkenntnis: Ihre Tochter ist ein Sohn und transident. Doch wie geht man damit um?

Was mache ich, wenn meine Tochter eigentlich ein Sohn ist?

Ich werde die Blicke der ganzen Verwandtschaft niemals vergessen. Ja, ich wäre am liebsten im Erdboden versunken und das an einem so besonderen Tag. Es war einfach grauenvoll. Da stand er, Anton*, im strahlend blauen Rüschenkleid und hochhackigen, wunderschönen cremefarbenen Pumps. Man sah ihm seine Verzweiflung sichtlich an. Denn eigentlich wollte er einen schwarzen Anzug anziehen. Doch ich hatte jede Diskussion sofort abgewendet. Meine Tochter will an ihrem großen Tag einen Anzug tragen? Sowas machen doch nur Jungs. Was wird bloß die Familie denken? Alle waren an dem Tag zusammengekommen, um mit Antonia ihre Konfirmation zu feiern. Doch was damals noch keiner wusste: Aus meiner Tochter Antonia sollte mein Sohn Anton werden.

Damals war Anton 14 Jahre alt. Mittlerweile sind 13 Jahre vergangen. Und meine Tochter ist fort. Dafür habe ich einen Sohn: Anton. Von Antonias verspielter Weiblichkeit ist nichts mehr geblieben. Dafür haben Testosteronspritzen gesorgt. Antons damals noch so sanfte Gesichtszüge sind heute kantig. Er trägt einen gepflegten Dreitagebart. Dann kam die alles entscheidende und für ihn sehr wichtige Operation: Aus einem Stück Unterarm-Gewebe wurde ein Penis-Ersatz geformt. Die OP war deshalb für ihn so bedeutend, weil er damit ein Mann wurde und sich endlich auch seelisch in seiner Haut wohlfühlen konnte. Früher war mir das nicht bewusst, aber heute ist es eine absolute Selbstverständlichkeit für mich: Mein Sohn Anton ist transident. Es machte mich doch so glücklich zu sehen, wie erfüllt er war, als er schließlich auch seinen Namen in seiner Geburtsurkunde und in seinem Ausweis ändern konnte. Anton war damit endlich angekommen und ich als Mutter stand vollkommen hinter ihm. Auch wenn das anfangs echt nicht leicht war.

Plötzlich trug sie weite Hosen und schnitt ihre schönen Haare ab

Denn Antonia war wirklich alles für mich. Natürlich ist es Anton heute noch immer. Allerdings wollte ich zuerst nicht akzeptieren, dass mein kleines Mädchen nicht mehr sie selbst sein wollte. Doch genau das war der entscheidende Punkt, den es für mich zu begreifen galt. Denn er fühlte sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Antonia war ein absolut lebensfrohes, energiegeladenes Kind, das nie weinte, wenn es mal vom Klettergerüst flog. Ich liebte es, ihr schöne Kleidchen anzuziehen und ihre dunkelblonden Haare zu flechten. Sie sah aus wie ein Engel.

Doch dann kam irgendwann der Tag, am dem sie das alles auf einmal nicht mehr wollte. Dann waren von jetzt auf nachher die Kleider doof, die geflochtenen Zöpfe drehte sie wieder auf. Stattdessen trug sie plötzlich lieber weite Jeans und schnitt sich ihre Haare ganz kurz. Ich war völlig geschockt und wusste gar nicht, wie ich darauf reagieren sollte. Was passierte da nur mit meiner Antonia? War das etwa ein Modetrend, den sie mitmachen wollte? Auf meine Frage, was das solle, antwortete sie damals nur: "Das gefällt mir einfach." Was war nur in sie gefahren? All meine Annäherungsversuche gingen nach hinten los. Meine Tochter wollte sich mir nicht öffnen. Das brach mir beinah das Herz.

Eines Abends fand ich sie blutüberströmt im Badezimmer

Da kam mir ein Gedanke: Ist sie vielleicht in ein Mädchen verliebt? Doch ein paar Tage später entdeckte ich sie mit einem Jungen. Die Beziehung schien nicht lange zu halten, was ja in dem Alter auch völlig normal ist. Jedoch war etwas anders und komisch. Die Trennung nahm Antonia sehr mit. Ich dachte zuerst: Klar, das ist Liebeskummer. Da musste ich auch schon durch. Ganz normal. Doch kurz nach ihrem 17. Geburtstag passierte es: Abends fand ich sie beinah bewusstlos auf dem Boden im Badezimmer auf. Ihr rechter Arm war blutüberströmt. Sie hatte sich mit Rasierklingen versucht, die Pulsadern aufzuschneiden. Ich brach in Tränen aus. Das war der schlimmste Moment meines Lebens. Kurz dachte ich ich hätte mein Kind für immer verloren. Was war bloß Antonia los? Wie in Trance fuhr ich sie ins Krankenhaus. 1000 Fragen und Gedanken verfolgten mich auf dem Weg dorthin. War mein Kind depressiv? Aber warum wollte es sich mir einfach nicht anvertrauen? Da gab es nur eine Lösung: Wenn Antonia sich mir nicht öffnen konnte, brauchte sie professionelle Hilfe.

Als ich ihr einen befreundeten Therapeuten vorschlug, den sie mal besuchen könnte, blockte sie nur ab. "Wie kann ich dir nur helfen, Antonia? Rede mit mir und ich mache alles für dich." Ich war verzweifelt. Da sie es nicht aussprechen konnte, schrieb sie mir einen Brief. Wobei man das nicht Brief nennen konnte. Er beinhaltete nur sechs Wörter: "Mama, ich möchte ein Junge werden."

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Etwas irritiert war ich schon und ich musste diese Nachricht erstmal verarbeiten. Ich las diese sechs Wörter immer und immer wieder. Bis sich eine große Erleichterung in mir breit machte und ich die Tatsache als natürlich annahm. All die Sorgen und Spekulationen gehörten damit schließlich der Vergangenheit an. Und eins war mir sofort klar: Mein Kind würde immer mein Kind bleiben, ob nun als Mädchen oder als Junge. Rückblickend muss seine Pubertät für Anton die Hölle auf Erden gewesen sein. Sich die ganze Zeit im falschen Körper zu fühlen und damit leben zu müssen. Von Zweifeln geplagt zu werden: Stimmt etwas nicht mit mir?

Eine Sorge blieb: Wird sein konservativer Vater ihn akzeptieren?

Natürlich konnte ich mich nicht von heute auf morgen in ihn hineinversetzen, um zu verstehen, was in ihm gerade vorging. Daher kaufte ich mir sämtliche Bücher, die ich zum Thema Transidentität finden konnte und suchte auch einen Sexualtherapeuten aus der Nachbarschaft auf, um meinem Sohn besser unterstützen zu können. Er sagte mir auch, dass die Transidentität vermutlich bereits im Mutterleib angelegt wird und dass sich, allein in Deutschland, etwa 100 bis 150 Menschen jährlich dazu entscheiden, eine Geschlechtsumwandlung zu vollziehen.

Damit er sich vor seiner Operation schon etwas wohler in seinem noch weiblichen Körper fühlen konnte, kaufte ich Anton sogenannte Brustbinder, durch die er seine Oberweite zumindest schon mal kaschieren konnte. Ich sah, dass er sich damit gleich besser fühlte. Mir blieb nur eine einzige Sorge: Wie erklärten wir das unseren Freunden und der Familie? Gerade sein Vater Norbert* (61), von dem ich seit nun acht Jahren geschieden bin, war sehr konservativ eingestellt. Ich befürchtete, dass er seinen Sohn abstoßen und nicht akzeptieren würde.  Doch seine Reaktion überraschte mich wirklich. "Mensch Junge, das habe ich mir schon lange gedacht. Dann können wir ja mal zusammen ins Stadion gehen", hatte er lachend gesagt und Anton mit einer weiten Umarmung empfangen. Nach dieser Reaktion informierte ich auch den Rest der Familie, alle Freunde und weitere Bekannte. Und erstaunlicherweise fiel das Feedback überwiegend positiv aus. Der Rest war mir ehrlich gesagt auch egal. Wer meinen Sohn nicht hinnahm, wie er ist, sollte sich einfach zum Teufel scheren.

Dann stand endlich die heißersehnte Geschlechtsumwandlung an. Zuvor hatte sich Anton bereits bei Ärzten und Psychologen gemeldet, die ihn auf seinem Weg begleiten sollten. Denn in Deutschland wird eine Geschlechtsumwandlung tatsächlich nur von der Krankenkasse übernommen, wenn die Notwendigkeit durch ein Gutachten bestätigt wurde. Mittlerweile war Anton bereits 19 und alt genug, um nun alle Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Doch ich stehe noch immer bei jeder Entscheidung absolut hinter ihm.

Endlich kann Anton er selbst sein und ich bin stolz auf ihn

Heute ist Anton 27. Er hat nach seinem Abitur eine Ausbildung zum Mechaniker absolviert. Damals machte ich mir auch noch Sorgen: Ob seine Kollegen ihn in einem doch noch von Männern dominierten Beruf akzeptieren würden? Doch es gab nie Probleme oder blöde Vorkommnisse. Anton war endlich er selbst. Von Antonia keine Spur mehr. Mittlerweile ist Anton sogar verlobt. Er ist überglücklich. Und ich auch. Und unglaublich stolz bin ich auf ihn. Dass er seinen eigenen Weg gegangen ist und zu sich selbst stehen kann. Hin und wieder werde ich zwar trotzdem noch von ein paar Bekannten gefragt: "Kommst du wirklich damit klar, dass deine Tochter jetzt einfach ein Sohn ist?" Darauf habe ich heute nur noch eine eindeutige, kurze Antwort: Ja!

Das sagt die Psycho- und Sexualtherapeutin

Psycho- und Sexualtherapeutin Bettina Brückelmayer begleitet selbst Menschen, die sich im falschen Körper fühlen und weiß von ihren Patienten, wie schwierig es ist, mit anderen Menschen darüber zu sprechen und dass auch der Prozess der Geschlechtsanpassung ziemlich herausfordernd ist – sowohl für den Transmenschen als auch für Angehörige.

Hier erfahren Sie, was die Therapeutin Müttern wie Claudia rät und wie man Betroffenen bestmöglich unterstützend zur Seite stehen kann:

Unsere Expertin zum Schicksal der Woche: Bettina Brückelmayer

Bettina Brückelmayer kommt aus Österreich und begleitet als Psycho- und Sexualtherapeutin transidente Menschen sowie deren Angehörige auf ihrem Weg, bis sie sich in ihrem Körper wohlfühlen.

Sie beschäftigt sich außerdem mit den Themen Intersexualität als auch mit Transvestitismus. Weitere Informationen über Bettina Brückelmayer und ihre Therapieangebote finden Sie hier.

Claudia vermutete vor dem Outing zunächst, dass Antonia lesbisch ist. Hat Transidentität auch gleich etwas mit der Sexualität zu tun?

Nicht unbedingt. Die Sexualität ist an sich unabhängig davon, ob man sich im falschen Körper fühlt. Ein Transmann als auch eine Transfrau kann nach dem Outing sowohl hetero-, homo- oder bisexuell sein. Oder keins der drei. Alles ist möglich. Oftmals wird aber eine Transidentität eben nicht sofort erkannt und damit abgestempelt, dass die betroffene Person lesbisch oder schwul ist.

Wenn ein Mädchen plötzlich Jungskleidung anzieht, hören Betroffene oftmals "Das ist nur eine Phase" – was halten Sie von dem Spruch?

Den Spruch würde ich in jedem Fall unterlassen. Prinzipiell zeigen Kinder oftmals gegengeschlechtliches Verhalten auf. So zeigen Mädchen Interesse an Sport und Raufereien und haben vielleicht keine Lust, weibliche Rollen bei "Vater und Mutter-Spielen" zu übernehmen oder haben auch weniger Interesse an Puppen. Auch Jungs können sich mit eher mädchenspezifischen Dingen beschäftigen. Sie sind gerne mit Mädchen beisammen und tragen gerne Frauenkleider.

Dieses Verhalten zeigt jedoch keine sexuelle Erregung. Dieses Verhalten bei Kindern kann in der Adoleszenz, also mit Ende der Jugend, auch nachlassen und es entwickelt sich nicht immer zum Transsexualismus. Viele weisen später eine homosexuelle Orientierung auf.

Dann gibt es auch noch den "Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechterrollen". Hier wird nur gegengeschlechtliche Kleidung getragen, das nennt sich cross-dressing. Den Wunsch einer Geschlechtsangleichung gibt es nicht. Es geht hier nur um die zeitweilige Erfahrung der Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht. Aber solche Sprüche würde ich wirklich streichen. Denn es ist keine Phase.

Wie sollte man sich als Elternteil verhalten, wenn sich das eigene Kind als trans outet?

Wenn das Kind nun den Mut fasst und sich und anderen eingesteht: "Ich bin im falschen Körper gefangen", dann sollte das Kind auch wirklich ernst genommen und ihm zugehört werden. Man sollte einfühlsam sein und auch mal nachfragen: "Wie fühlt es sich denn an?"

Außerdem würde ich als Elternteil nach einem Therapeuten oder Psychologen suchen, der dem Kind dann weiterhelfen kann bei der entscheidenden Phase. Auch wenn es um das Thema Geschlechtsanpassung geht. Und dann auch mit dem Kind dort hingehen und zeigen: Ich bin da für dich.

Für die Eltern gilt es dann, die Transidentität des Kindes anzunehmen und sich auch nicht zu fragen: "Habe ich etwas falsch gemacht?" Denn dem ist einfach nicht so. In den meisten Fällen ist Transidentität natürlicher Herkunft.

Was macht man als Mutter oder Vater, wenn es aus dem Verwandtenkreis negative oder gar transphobe Kommentare hagelt?

In den Fällen, die ich bisher betreut habe, hat das nähere Umfeld bisher überwiegend immer gut reagiert. Aber wenn Verwandte transphobe Kommentare äußern und mein Kind wäre betroffen, wollte ich diese Menschen nicht mehr in meiner und vor allem in der Nähe meines Kindes haben. Freundeskreise verändern sich häufig schon, aber die direkte Familie nimmt das Outing fast immer gut auf. Bis auf einen Fall, in dem die Mutter eines transidenten Menschen völlig aufgelöst und überfordert zu mir kam und auch meinte, das gehe gar nicht und wenn das rauskomme, müsse die Familie auch das Dorf verlassen, in dem sie leben.

Welche Voraussetzungen müssen für eine geschlechtsangleichende Operation erfüllt sein?

Laut dem derzeitigen Transsexuellengesetz muss für mindestens 18 Monate eine psychologische Betreuung sowie ein Alltagstest stattgefunden haben und die Indikation zur Durchführung einer geschlechtsangleichenden Operation befürwortet werden.

Es müssen zwei voneinander unabhängige fachpsychiatrische/ psychologische Gutachten zur Diagnose Transsexualität vorliegen. Die gegengeschlechtliche Hormontherapie sollte für mindestens sechs Monate erfolgt sein.

Wie gehen Sie in Ihren Therapiesitzungen auf Betroffene ein?

Ich stelle vor allem essenzielle Fragen wie: "Wie stellst du dir das Leben mit dem anderen Geschlecht vor?" Aber ich beschäftige mich auch in den Sitzungen mit Thematiken wie "Gehe ich nun auf die Damen- oder Herrentoilette?" Außerdem begleite ich die transidente Person auch bei den Fragen: Wann und wie nehme ich eine Namensänderung im Pass vor, bis hin zur Hormontherapie.

Wie lange dauert eigentlich im Schnitt der Prozess der Transition, also der Weg des Übergangs?

Das kann ganz unterschiedlich sein und hängt immer von der betroffenen Person ab. Manche wollen etwa nur eine Namensänderung, andere gleich eine Hormontherapie und wieder andere wollen auch eine geschlechtsangleichende Operation vollziehen. Es ist so viel Zeit notwendig, bis die Betroffenen bereit sind für alle Schritte. Durchschnittlich kann man ganz grob sagen, dass der Prozess etwa drei bis vier Jahre dauern kann. Man kann aber auch sagen, dass es besser ist, wenn man den Prozess – also die Hormontherapie altersmäßig so früh wie möglich beginnt.

Wieso? Gibt es etwa mit zunehmendem Alter ein höheres Risiko?

Es gibt an sich kein Risiko außer, dass man es später vielleicht bereut. Auch nicht altersbedingt – eher, dass es das Umfeld vielleicht schwieriger aufnimmt, weil man vielleicht schon verheiratet ist oder Kinder hat.

Wenn man einer Hormontherapie ins Auge fasst, sollte man nur im Hinterkopf behalten, dass man Stimmungsschwankungen bekommen kann. Bei der Einnahme von Testosteron – also bei der Transition von Frau zum Mann – spürt man womöglich, dass man aggressiver wird. Hingegen kann es beim anderen Fall, also wenn Mann zur Frau werden möchte und Östrogen einnimmt, zu Depressionen führen.

*Anmerkung: Namen von der Redaktion geändert

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