Schicksal der Woche: "Ich liebe einen Häftling"
Als Andrea* (55) ihren Freund kennenlernt, sitzt dieser in Haft. Warum sie sich trotzdem für die Beziehung mit ihm entschied.
In unserer neuen Rubrik 'Schicksal der Woche' berichten Menschen anonym, über sensible Themen, die sie bewegen. Wir von Liebenswert befragen im Anschluss einen Experten zu dem Thema: Was kann in einer solchen Situation helfen und worauf sollte man unbedingt achten?
Das Schicksal dieser Woche: Eine Frau, die in einen Häftling verliebt ist.
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Wie es dazu gekommen ist, dass Andrea* sich in einen Häftling verliebt hat, erzählt sie hier:
Wie alles begann...
Ich beichte heute etwas, dass nur die wenigsten von mir wissen. Nur meine Familie und sehr engen Freunde: Ich liebe einen Häftling.
Ich weiß noch heute, wie schockiert meine Mutter damals reagierte, als ich ihr zum ersten Mal davon erzählte. Sie versuchte sofort, mir die Beziehung auszureden: "Andrea, meinst du nicht, es gibt da draußen noch einen besseren, ordentlichen Mann für dich?", fragte sie mich mit besorgtem Blick. Sie warf mir sogar vor, dass ich diese Beziehung nur einging, weil ich nicht mehr allein sein wollte. Da sprach natürlich die Angst aus ihr, trotzdem hatte sie mit einer Sache recht.
Ich war es leid, allein zu sein. Mit über 50 Jahren wollte ich eigentlich an einem anderen Punkt in meinem Leben stehen. Mein Kind ist vor zwei Jahren ausgezogen, statt die Freiheit zu genießen, habe ich mich so einsam gefühlt wie noch nie in meinem Leben. Meine letzte Beziehung ist schon über zehn Jahre her und die Sehnsucht, endlich wieder einen Mann an meiner Seite zu haben, mit dem ich gemeinsam durch Leben gehen kann, war groß.
Vermutlich war das auch der Grund, warum mich die Kontaktanzeige in der Zeitung so ansprach: 59-jähriger Mann, 1,89 m. Ich bin schon lange allein. Auf Dauer ist das nicht schön, denn zu zweit macht alles viel mehr Spaß. Ich suche eine Frau, mit der ich Hand in Hand durchs Leben gehen kann.
Die Zeilen trafen mich direkt ins Herz, ich fühlte mich verstanden. Also überlegte ich nicht lang und antwortete Werner*. Meine Hände zitterten vor Aufregung, als er mir tatsächlich zurückschrieb und ich seinen ersten Brief in den Händen hielt!
Auch Werner hatte Kinder, liebte die Sonne und das Meer genauso sehr wie ich und war so einfühlsam, wie ich es mir von einem Mann immer erträumt hatte. Ehe ich mich versah, planten wir unsere Zukunft. Gemeinsame Urlaube, Ausflüge und schließlich das Kennenlernen. Doch dann kam der große Schock: Werner offenbarte mir, dass er im Gefängnis saß. Wegen Steuerhinterziehung. Zwei Jahre hatte er schon abgesessen, knapp drei Jahre hatte er noch vor sich.
Kann ich einen Häftling lieben?
Sofortiger Kontaktabbruch. Das war meine erste Reaktion. Ich war schockiert. Wie konnte das nur passieren? Heute weiß ich natürlich, wie das alles zustande gekommen ist: Werner hatte einen Freund, der die Briefe für ihn verschickte, damit ich nicht von Anfang an wusste, dass er im Gefängnis saß.
Ich fühlte mich so betrogen. Werner schrieb mir seitenlange Briefe, in denen er mir erklärte, wie es zu der Verhaftung kam. Er gestand sich selbst seine Schuld ein, bat mich unzählige Male um Verzeihung dafür, dass er mich belogen hatte und schrieb mir, dass ich für ihn der Mensch sei, für den sich das Leben endlich wieder lohnt. Und dass ich ihm Hoffnung geschenkt hätte. Alles, was er geschrieben hat, sei wahr gewesen und seine Gefühle für mich aufrichtig.
Skeptisch war ich immer noch, doch meine Neugier überwog: Ich musste ihn zumindest kennenlernen. "Verlassen kann ich ihn dann immer noch", das redete ich mir zumindest immer wieder ein. Doch tief in mir drin wusste ich eigentlich schon, dass ich mich bereits entschieden hatte.
Doch es war nicht einfach, diesem Gefühl zu vertrauen. Die Worte meiner besten Freundin hallten immer wieder in meinen Ohren. Sie hielt die Beziehung für Werner für zu gefährlich. "Was, wenn er wieder straffällig wird?", hatte sie mich gefragt. Außerdem stellte sie seine Geschichte infrage. Wer weiß, ob er wirklich Steuern hinterzogen hat. Immerhin hat er dich schon einmal angelogen, was hält ihn davon ab, es wieder zu tun?
Ich verstand ihre Bedenken und ihre Sorge. Sehr gut sogar. Aber ich hatte mich schon Hals über Kopf in den Mann aus den Briefen verliebt und entschloss meinem Bauchgefühl zu vertrauen und ihn zu besuchen.
Wie es ist, einen Häftling zu lieben
Vor unserer ersten Begegnung fühlte ich mich wie ein Teenager vor dem ersten Date. Noch dazu drängten sich mir viele unangenehme Fragen auf: Was zieht man zu so einem Gefängnisbesuch eigentlich an? Was würden die Gefängniswärter nur von mir denken? Würden sie mich für verzweifelt halten?
Als ich Werner schließlich das erste Mal besuchte, kam ich mir vor, als täte ich etwas Verbotenes. Die Sozialarbeiter nahmen mich genau unter die Lupe und führten ein längeres, persönliches Gespräch mit mir. Anschließend bewilligten sie mir, ihn zu besuchen.
All die Gespräche hatten ein mulmiges Gefühl in mir ausgelöst. Was tat ich hier nur? Auf dem Weg zum Besucherraum sah ich bereits die ersten Häftlinge in ihren Overalls sitzen. Ich war schon kurz davor, doch abzubrechen und wieder nach Hause zu fahren. Doch als ich ihn dann sah, schienen all meine Sorgen plötzlich nicht mehr zu existieren.
In echt schien er viel kleiner als angegeben. Aber nicht im körperlichen Sinne, zögerlich reichte er mir zur Begrüßung die Hand. Sein Lächeln war unsicher, aber kam aus tiefstem Herzen. Da wusste ich: Egal, was da noch kommen würde, wir würden das schon schaffen. Gemeinsam.
Das ist mittlerweile gut ein Jahr her. Jeder Besuch ist ein Besuch auf Zeit. Meist sehe ich Werner nur zweimal im Monat, ein Langzeitbesuch oder auch Intimbesuch genannt, ist uns nicht erlaubt, da wir weder verheiratet noch in einer Langzeitbeziehung waren, als er inhaftiert wurde. Die Regeln im Gefängnis sind da sehr streng.
Seit Anfang der Beziehung gab es viele Belastungsproben für Werner und mich. Doch wir haben sie alle gemeistert. Trotz der Bedenken meiner Freunde und Familie spüre ich es einfach: Werner ist mein Seelenverwandter und der Richtige für mich. Und meiner Meinung nach hat jeder eine zweite Chance verdient. Für ihn bin ich bereit, noch zwei weitere Jahre auf ein gemeinsames Leben zu warten.
Das sagt die Beziehungsberaterin
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Was sie Betroffenen in einer solchen Situation rät und wie man damit umgeht, wenn Freunde und Verwandte gegen die Beziehung sind, erfahren Sie hier:
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1. Was würden Sie Betroffenen in einer solchen Situation raten?
In einer solchen Situation würde ich Betroffenen raten, ihre eigenen Bedürfnisse und langfristigen Vorstellungen von einer Beziehung zu reflektieren. Wer spürt, dass er aktuell eine Beziehung möchte, um den Alltag zu teilen und zu versüßen, wird mit Liebe über Distanz und unter erschwerten Bedingungen nicht glücklich sein.
Wer aber merkt, dass Geduld und Warten auf eine gemeinsame Zeit kein Problem ist, kann den Weg weiterverfolgen.
Dabei ist nur wichtig, die Zeit zu nutzen, um sich kennenzulernen. Wer über Jahre nur Briefe etc. schreibt, kann eine gewisse Illusion einer Person entstehen lassen, da die klassischen alltäglichen Begegnungen und Realitätsüberprüfungen nicht möglich sind.
Es kann dann zu Enttäuschungen kommen, wenn z.B. das Leben nach der Inhaftierung gemeinsam weitergeführt wird. Daher ist es ratsam, sich auf die Situation der Inhaftierung und auf so viel "Realitätsabgleich" wie möglich zu konzentrieren: Also Besuche zu nutzen, ggf. Lockerungen wie z.B. Freigänge (falls möglich) zu beantragen.
2. Kann man sich in so einer Ausnahmesituation seiner Gefühle sicher sein?
Der Zustand der Verliebtheit ist per se ein Ausnahmezustand, in dem unser Gehirn "wie auf Droge" ist. Richtig sicher sein, kann man sich erst, wenn nach einigen Monaten der erste Hormonrausch abgeklungen ist.
Danach ist es wichtig sich bewusst zu machen, dass eine solche Beziehung mit besonderen Herausforderungen verbunden ist und dass die Gefühle durch die Umstände beeinflusst werden können. Deshalb gilt auch hier wieder: so viel Realität schaffen, wie möglich.
Das gelingt auch unter erschwerten Bedingungen. Eine Möglichkeit, die Zeit nach dem Hormonrausch zu nutzen ist, die Kommunikation über Werte, Beziehungsvorstellungen und Wünsche. Aber auch: "Wie stellst du dir einen gemeinsamen Alltag vor?" Ist der Kopf wieder im Normalbetrieb, kriegt man ein recht gutes Gefühl, ob man eigentlich gut zusammenpasst.
3. Wie geht man damit um, wenn Familie und Freunde gegen die Beziehung sind?
Wenn Familie und Freunde gegen die Beziehung sind, ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass ihre Skepsis aus Sorge um das Wohlergehen kommt. Unsere Lieben wollen nicht, dass wir verletzt oder enttäuscht werden.
Es könnte hilfreich sein, das Thema nicht mehr aktiv mit den Lieben zu diskutieren und im Laufe der Zeit und durch Handlungen zu zeigen, dass man die Beziehung ernst nimmt und glücklich ist. Mit Geduld und Beharrlichkeit können sich Meinungen und Einstellungen ändern. Wichtig ist es, auf die eigenen Überzeugungen und das eigene Glück zu vertrauen.
Dabei aber diplomatisch sein, denn keine Beziehung ist es wert, einen kompletten Kontaktabbruch mit den Lieben in Kauf zu nehmen.
4. Wie führt man – mit so viel Abstand/gelegentlichen Besuchen – eine gesunde Beziehung?
In einer Beziehung mit so viel Abstand und gelegentlichen Besuchen ist es wichtig, die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Das Schreiben kann dabei eine wichtige Rolle spielen, indem man sich gegenseitig vom Alltag berichtet, Gefühle ausdrückt und Pläne für die Zukunft bespricht. Es können auch andere Kommunikationsmittel wie Telefonate oder Videoanrufe (falls erlaubt) genutzt werden, um eine engere Verbindung aufrechtzuerhalten.
Ein Paar "unter Normalbedingungen" schafft ein starkes Fundament und vertieft die Bindung zueinander vor allem durch gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen. Das erfordert über die Ferne und unter den besonderen Bedingungen einer Haftanstalt etwas Kreativität, ist aber auch möglich.
Zum Beispiel kann man ein gemeinsames Projekt starten, wie eine Sprache lernen oder gemeinsam eine Leseliste abarbeiten und sich darüber austauschen. Das schafft Verbindung trotz Distanz.
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*Namen von der Redaktion geändert