Bewegende Beichte

'Schicksal der Woche': Meine Mutter ist Alkoholikerin

Birgit* erzählt in unserem 'Schicksal der Woche' davon, wie es war, mit einer Mutter aufzuwachsen, die schwer alkoholkrank ist.

Mutter ist Alkoholikerin
Als Kind musste Birgit die Launen ihrer alkoholkranken Mutter tagein, tagaus ertragen. Foto: iStock/Zinkevych/Collage
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In unserer Rubrik 'Schicksal der Woche' berichten Menschen anonym, über sensible Themen, die sie bewegen. Wir von Liebenswert befragen im Anschluss einen Experten zu dem Thema: Was kann in einer solchen Situation helfen und worauf sollte man unbedingt achten?

Das Schicksal dieser Woche: Eine Frau berichtet darüber, wie es war, mit einer alkoholkranken Mutter aufzuwachsen und wie sie das Erlebte noch heute belastet.

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Birgit kann die unbeschwerten Momente ihrer Kindheit an einer Hand abzählen. Im 'Schicksal der Woche' erzählt sie im Detail, wie sie unter der Alkoholkrankheit ihrer Mutter litt.

Wenn die Alkoholabhängigkeit der Mutter die Kindheit zerstört

"Mama, es ist so schön, wenn du lachst!" Es war ein strahlender Nachmittag, als ich das sagte. Meine Mutter und ich waren ins Freibad geradelt, lagen auf einer Decke und alberten herum. Ich war selig. Diese Momente gab es selten. Meist lag meine Mutter apathisch im Schlafzimmer … Eigentlich hätte alles perfekt sein können. Mein Vater war Bauingenieur in leitender Position, meine Mutter den ganzen Tag zu Hause, um sich um das einzige Kind zu kümmern. Soweit die Theorie.

In der Praxis erlebte ich mit fünf Jahren meine Mutter zum ersten Mal betrunken. Auf einem Straßenfest, das ganze Dorf war auf den Beinen. Mama hatte so viel Wein intus, dass sie nicht mehr aufrecht stehen konnte. Papa schleppte sie nach Hause, ich trottete verstört hinterher. Wie peinlich! Als es bei meiner Einschulung wieder passierte, ahnte ich, dass was aus dem Ruder läuft. Anderen Müttern passierte das nie. 

"Hat mich Mama nicht mehr lieb?"

Erwachsene denken immer, Kinder merken nichts. Was für ein Irrtum. Als Papa den Job wechselte und nur noch am Wochenende zu Hause war, ging Mamas Trinkerei richtig los. Auch tagsüber. Ich wusste nie, was mich erwartete, wenn ich aus der Schule kam. Entweder sie überhäufte mich mit Liebe, stopfte mich mit Kuchen und Eis voll. Oder sie lag im abgedunkelten Schlafzimmer. Sagte, sie wäre zu müde zum Aufstehen. Vergaß, mich vom Ballett abzuholen. Besorgte kein neues Mathe-Heft und fehlte beim Elternabend. Dafür lag jetzt dieser eklige Alkoholmief in der Luft – und ein Berg leerer Weinflaschen in der Küche. Ich verschanzte mich immer mehr in meinem Zimmer. Warum kümmerte sich Mama nicht mehr um mich? Hatte sie mich nicht mehr lieb? Dass sie in ihrer Sucht gefangen war, wusste ich ja nicht. Eine Krankheit, in die sie langsam hineinrutschte.

Schon in ihrer Jugend fing das an. Sie sei extrem scheu und zurückhaltend gewesen, erklärte sie mir viel später. Und sie merkte, dass sie anders war, wenn sie Alkohol trank. Frei und souverän. Vielleicht suchte sie dieses Gefühl wieder, als sie Hausfrau war? Wer weiß. Jedenfalls wurde ich immer verzweifelter. Wenn Papa nach Hause kam, versuchte ich, mit ihm zu reden. Aber er wollte nicht. Tätschelte mir die Wangen – "tapferes Mädchen". Seltsamerweise gelang es Mama, sich vor ihm einigermaßen zusammenzureißen. Jahre später wurde mir klar: Wenn Süchtige Menschen finden, die mitspielen, hört es nie auf! Ich rutschte immer mehr in die Rolle einer kleinen Hausfrau. Kochte, wusch, kaufte ein. Wenn ich für Mama Wein besorgen sollte, sagte ich, er sei für die Soße. Ich war zuverlässig, still und gehorsam, rückte meine eigenen Bedürfnisse ganz nach hinten. Freundinnen lud ich schon lange nicht mehr ein. Keiner sollte sehen, was los war. Ich war eingekapselt in meinem Leid. Mit wem sollte ich sprechen? Oma und Opa wohnten weit weg! Irgendwann fand ich Mama besinnungslos in ihrem Erbrochenen.

Als der Notarzt kommen musste...

Ich rief den Notarzt. Erst da stellten meine Eltern fest, dass es ein Alkoholproblem gab. Das war alles. Kein Entzug, keine Therapie. Die beiden waren unfähig, etwas zu ändern. Schlugen die Appelle von Verwandten und Bekannten in den Wind. Das ist es, was ich ihnen am meisten vorwerfe: Dass sie die Dinge laufen ließen. Schwer, so was zu verzeihen. Erst mit 13 fand ich den Mut, mich zwei Mitschülerinnen anzuvertrauen. Es tat gut, alles loszuwerden. Sie schickten mich zu einer Vertrauenslehrerin. Die machte mir klar, dass ich loslassen müsse. Ich konnte das Trinken meiner Mutter weder stoppen noch beeinflussen. Auch wenn es mich traurig machte, sollte es mir egal sein, was Mama mit ihrem Leben anstellte. Ich musste mich um mein eigenes kümmern! Mit dem Hauptschulabschluss ging ich von der Schule ab, machte eine Ausbildung zur Friseurin, zog in eine WG. Die Distanz tat gut.

Ich bin froh, dass es mir gelungen ist, ein eigenes Leben aufzubauen. Ein gutes. Ich habe früh geheiratet, drei Kinder bekommen und bin zufrieden. Doch es war ein harter Weg. Noch immer gehe ich zu einer Therapeutin, um meine Angst vor Zurückweisung und meine Schuldgefühle unter Kontrolle zu bringen. Nach einem Kollaps hat Mama aufgehört zu trinken. Heute kämpft sie mit einer Leberzirrhose, sitzt im Rollstuhl. Obwohl sie sich weinend bei mir entschuldigte, sehe ich sie nur selten. Der innerliche Bruch mit ihr war meine Überlebensstrategie. Den konnte ich nicht wieder kitten. Papa kümmert sich um sie. Stillschweigend wie immer.

*Namen von der Redaktion geändert

Das sagt die Psychologin

Diplom Psychologin Sabine Harms weiß: Viele Kinder von suchtkranken Eltern haben später selbst mit Suchtthemen und psychischen Problemen zu kämpfen. Was sie ihnen rät:

Was kann/sollte ein Kind tun, wenn die eigene Mutter alkoholkrank ist?

Ein Kind kann wenig tun, es hat nicht die Kapazitäten dazu. Für Kinder sind ihre Eltern die Welt. Zudem kann ein Kind oftmals gar nicht wirklich benennen, was alles im familiären Umfeld schiefläuft. Kinder sind oft bedingungslos loyal und entwickeln bei suchtkranken Eltern eine sogenannte Co-Abhängigkeit.

Heilpraktikerin für Psychotherapie Sabine Harms - Foto: Indra Ohlemutz

Unsere Expertin zum Schicksal der Woche: Sabine Harms

Sabine Harms ist Diplom Psychologin und Traumatherapeutin aus Hamburg und betreut Menschen mit Traumata. Sie selbst wurde bereits mit Burnout diagnostiziert und hat es sich seitdem zur Aufgabe gemacht, anderen Menschen bei der Bearbeitung ihrer Traumata zu begleiten, die eigene Selbstliebe wiederherzustellen und damit Zufriedenheit und Stabilität zu schaffen. Weitere Informationen über Sabine Harms finden Sie hier.

Darunter versteht man das Verhalten von Nahestehenden eines Suchtkranken, das dazu beiträgt, die Symptome einer Suchterkrankung zu bagatellisieren oder minimieren. Sie decken und entschuldigen das suchtbedingte Verhalten, wie wenn zum Beispiel die minderjährige Tochter den Haushalt schmeißt und die verkaterte Mutter umsorgt. Hier geschieht eine „Parentifikation“, eine Umkehr der sozialen Rollen im Familiensystem. Damit geschieht jedem Kind ein großes Unrecht, denn ihm wird seine Unbeschwertheit genommen. Betroffene sind früh mit viel zu viel Verantwortung beladen und haben keine Wahl. Gleichzeitig werden die Bedürfnisse des Kindes missachtet und das Kind lernt diese hinten anzustellen.

Gefordert wäre definitiv der Vater seine Tochter zu schützen und die belastende Situation aufzulösen. Da er, wie im Text beschrieben, auch in einer Co-Abhängigkeit lebt, sehe ich Außenstehende in der Pflicht zu helfen. Wie die Lehrerin in der Geschichte. Kindeswohl gehört geschützt.

Wie kann man damit umgehen lernen, dass ein nahestehender Mensch vor den eigenen Augen leidet und man nicht helfen kann?

Leider ist genau das die traumatische Erfahrung, dass das Kind nichts tun oder helfen kann. Die Tochter erlebt hier eine große Ohnmacht, die in vielen Fällen zu Entwicklungstraumata führen. Die Betroffenen haben später mit Traumafolgestörungen zu kämpfen. In der Therapie werden die quälenden Gefühle und tiefen Wunden darunter bearbeitet.

Welche Traumata können durch so eine Erfahrung bei einem Kind hervorgerufen werden?

Wie zuvor erwähnt, entsteht hier ein Bindungs- und Entwicklungstrauma, durch die erfahrene Ohnmacht, Vernachlässigung und Parentifikation. Die Tochter muss zu früh viel Verantwortung für sich und die Mutter übernehmen und wird mit allem allein gelassen. In der Schicksalsgeschichte beschreibt die Tochter viele sehr traurige und belastenden Situationen, die vermutlich emotionale Wunden hinterlassen haben. Gravierend ist auch die Heimlichkeit, in der alles geschieht. Die Familie deckt das Suchtverhalten der Mutter und dessen schlimme Folgen.

Sollten sich Betroffene, die so aufgewachsen sind, in jedem Fall therapeutische Hilfe suchen?

Ich würde es empfehlen, weil man einfach zu viel erlebt hat, was über die eigenen Grenzen der Belastbarkeit hinausgeht. Es ist bemerkenswert, wie wenig heutige Einschränkungen die Tochter aus der Geschichte erwähnt. Viele Kinder von alkoholkranken Eltern haben später selbst mit Suchtthemen oder psychischen Problemen zu kämpfen. Bei anderen äußert es sich in Bindungs- und Beziehungsproblemen. Einige wählen Partner mit Suchtthemen und führen ungesunde Beziehungen. In solchen Fällen hilft natürlich eine gute Therapeutin. Generell entscheidet jeder für sich, ob Leidensdruck vorhanden ist.

Wie kann eine gesunde Distanz geschaffen werden, die einem ein eigenes, glückliches Leben ermöglicht?

Das bearbeitet die Therapeutin mit der Klientin. Dazu wird individuell und prozessorientiert geschaut, was es für sie braucht. In der Therapie wird erstmal bearbeitet, wie sie sich während der belastenden Situationen mit ihrer Mutter gefühlt hat und was es eigentlich gebraucht hätte.

Ein erster, wichtiger Schritt ist zu erfühlen, was einem für Unrecht angetan wurde. Dies anzuerkennen, zu betrauern und unterdrückte Gefühle zuzulassen. Ich erlebe in der Praxis viele Tränen, die darüber geweint werden möchten, aber auch Wut und Verachtung, die ausgedrückt werden muss. Die Klientin erfühlt immer mehr, was es im Hier und heute in Bezug zu den Eltern für sie braucht.

Birgit* hat noch immer mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Was würden Sie Menschen raten, die sich für das Glück von anderen verantwortlich fühlen?

Ich denke, es geht vielmehr darum, dass die Klientin erkennt, warum sie Schuldgefühle hat.

Welche Anteile oder Glaubenssätze geben ihr Schuld? Wir erkunden und bearbeiten diese und deren Ursachen. Es gilt auch zu verstehen, dass es bei all dem Leid natürlich auch Anteile in uns gibt, die sich der Mutter gegenüber verantwortlich und loyal fühlen. Gefühle haben nichts mit Logik zu tun. Vieles existiert gleichzeitig in uns. Das anzuerkennen hilft.

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